Interview mit Sheila Mysorekar & Keywan Tonekaboni (NdM)

Den Journalismus besser machen

Keywan Tonekaboni & Sheila Mysorekar / Fotos: privat, Sarah Eick

Anlässlich des 50jährigen Bestehens des Grimme-Instituts im Herbst 2023 führten Aycha Riffi und Stefan Schröer (Grimme-Akademie) ein Interview mit den langjährigen Kooperationspartner*innen Sheila Mysorekar und Keywan Tonekaboni (Neue deutsche Medienmacher*innen).

Sheila Mysorekar ist Journalistin, war langjährige Vorsitzende der Neuen deutschen Medienmacher*innen und ist Vorsitzende des Netzwerks „neue deutsche organisationen“, dem rund 200 postmigrantische Organisationen und Projekte angehören. Sie arbeitet als Trainerin für konfliktsensiblen Journalismus, ist Beraterin für Medien in Post-Konflikt-Staaten bei der Deutschen Welle Akademie und bildet Journalist*innen in Konfliktländern aus. 2011 hat sie im Projekt media4us der Grimme-Akademie als Dozentin gearbeitet.

Keywan Tonekaboni ist Journalist und Redakteur bei der Computerzeitschrift c’t. Als Medientrainer gibt er Workshops u.a. zu Diversität im Journalismus. Seit 2020 ist er im Vorstand der Neuen deutschen Medienmacher*innen. 2014 war Keywan Tonekaboni Teilnehmer im Seminar „Über Medien informieren“ der Grimme-Akademie. 2020 war er genau dort als Dozent.

Wie seid Ihr zu den Neuen deutschen Medienmacher*innen gekommen?

S. Mysorekar: Ich bin von einer Kollegin angesprochen worden, die in Berlin von den NdM gehört hatte. Wir haben uns in Köln getroffen und das war der Beginn der NdM in NRW. Am Anfang waren wir eine Handvoll Leute, die in einer Redaktion oder als Freelancer arbeiteten – ohne konkrete Möglichkeiten zum Austausch. Mit Gleichgesinnten über Diskriminierungserfahrungen zu sprechen war einfach wichtig. Von da aus ergaben sich Ansätze, diesen Austausch zu professionalisieren. Es war schon enorm, wie unsere Arbeit etwas später durch die Decke ging, wie wir die Themen platzieren konnten und es auch in der Branche wichtiger wurde, über unsere Themen zu reden.

K. Tonekaboni: Mein Engagement kam über meine Frau, die vor mir bei den NdM war. Als wir nach Hannover gezogen sind, wollten wir uns hier eigentlich der NdM-Gruppe anschließen. Da hieß es aus Berlin, die Gruppe gibt es gerade nicht, also haben wir hier eine Gruppe aufgebaut. Wir wurden zum Beispiel auch von der Madsack Mediengruppe angesprochen, ob wir dort für die Volontär*innen einen Workshop machen können. Das haben wir ein paar Mal getan und es war spannend zu sehen, wie die junge Generation doch offener war, als man dies aus der allgemeinen Medienlage zum Thema Diversität oder Gendern wahrgenommen hat.

­­­Das Grimme-Institut hat Anfang der 90er Jahre mit konkreten Aktivitäten zu Migration und Medien begonnen. Die Projekte hatten im Titel Begriffe wie „multikulturell“ oder „interkulturell“ oder ganz beliebt „Mehr Farbe in den Medien“, so würden wir heute nicht mehr titeln. Sprachlich hat sich schon einiges verändert, oder?

K. Tonekaboni: Noch bevor ich bei den NdM war, war es für mich wichtig, mir Gedanken über gewisse Begriffe zu machen, die ich teilweise auch selber selbstverständlich verwendet habe, wie zum Beispiel „Migrationshintergrund“. Aber wer hat einen Migrationshintergrund und wer nicht? Wann wird man ihn los, welche Migrant*innen werden ihn los, welche haben ihn auch in der fünften Generation? Und ja, es hat sich was verändert. Nach Hanau wird zum Beispiel der Begriff „fremdenfeindlich“ signifikant seltener verwendet. Auch nach „Black Lives Matter“ – obwohl es dabei primär um die USA ging, hat diese Bewegung hierzulande auch dem professionellen Journalismus Denkanstöße gegeben in der Frage: Wie gehen wir professionell mit Sprache um?

S. Mysorekar: Ich würde gerne ergänzen, dass die meisten Journalist*innen sich freuen, Informationen, Hilfestellungen oder einfach Hinweise zu bekommen. Wir haben nach der Selbstenttarnung des NSU auf die NdM-Webseite eine kleine Zusammenstellung von Begriffen gesetzt, die man zu diesen Ereignissen benutzen oder nicht benutzen sollte – also keinesfalls über „Dönermorde“ schreiben, sondern reflektierter über den NSU berichten. Es kamen dazu so viele positive Reaktionen, dass wir entschieden haben, ein Glossar zu erstellen. Die ersten 3000 Exemplare waren nach einer Woche vergriffen. Da wurde uns klar, wie groß der Bedarf war, sich mit diskriminierungsarmer Sprache auseinanderzusetzen. Das war ein Thema, das die Arbeit von Journalist*innen direkt betraf: Wir sind Sprach-Arbeiter*innen, wir müssen uns mit Sprache und Rassismus auseinandersetzen. Es ist nicht egal, wie man was nennt.

K. Tonekaboni: Ich finde das Wichtigste am Glossar, dass es eben kein Nachschlagwerk ist, nach dem Motto „Das ist die letzte Wahrheit“. Wenn man sich die Texte und Erklärungen durchliest, ist da auch ganz viel Raum für eigene Entscheidungen, denn das Wichtigste ist, Worte und sich selbst zu reflektieren: In welchen sprachlichen und gesellschaftlichen Strukturen bewegen wir uns? Und diese dann dort zu verändern, wo es nötig ist.

S. Mysorekar: Dahinter steht die Idee, den Journalismus besser zu machen. Für alle, nicht nur für Minderheiten und Menschen, die diskriminiert werden, sondern weil alle was davon haben.

 
Wie divers ist denn die Medienbranche Eurer Meinung nach? Ist Diversität mittlerweile selbstverständlich, oder schmückt man sich gerne damit und betrachtet das eher als Label?

K. Tonekaboni: Ich würde sagen nicht divers genug, aber es ist etwas in Bewegung geraten. Wir haben zum Beispiel 2021 den „Diversity-Guide“ herausgebracht. Diversität ist Chef*innen-Sache und muss strukturell in Medienhäusern und in Redaktionen verankert werden. Es muss ein Monitoring geben, es muss evaluiert werden und verbindliche Maßnahmen müssen getroffen werden, weil das einem besseren, einem professionelleren Journalismus dient. Diversität führt zu mehr Perspektiven, wenn nicht stereotyp berichtet wird. Und so gelingt auch der Zugang zu Gruppen, zu denen eine nicht-diverse Redaktion weniger Zugänge hat. Ebenso können Fehleinschätzungen schneller erkannt und in Redaktionskonferenzen korrigiert werden: Dafür ist eine diverse Zusammensetzung der Redaktion wichtig.

Wir möchten einmal selbstkritisch nachfragen: Warum gelingt es uns selbst nicht immer, mit unseren Angeboten Menschen mit Migrationshintergrund anzusprechen?

S. Mysorekar: Das ist eine Frage, die uns von unterschiedlichen Organisationen immer wieder gestellt wird: „Wir würden gerne diversere Mitarbeitende einstellen oder diversere Gruppen für unsere Seminare gewinnen. Warum kommen die nicht?“ Zwei Sachen nenne ich oft, die nicht unbedingt mit der Organisation zu tun haben müssen. Erstens die Bezahlung: Wenn hohe Teilnahmegebühren erhoben werden oder es sich um unbezahlte Praktikumsstellen handelt, dann kann halt nur eine bestimmte Schicht von Leuten teilnehmen. Und migrantische Menschen sind oft nicht aus der Mittelschicht. Also wie sind die Bedingungen? Kann sich jemand, der wenig Geld hat, leisten da mitzumachen? Der zweite Punkt: In welchen Netzwerken werden diese Angebote verbreitet? Da muss man vielleicht auch ganz unkonventionelle Wege gehen, z.B. das durch Influencer über TikTok weiterverbreiten lassen und nicht nur die Wege gehen, die sonst gut funktionieren. Das sind andere Zielgruppen, andere Informations- oder Medienkonsumgewohnheiten und entsprechend müssten die Angebote auch anders gestreut werden. Der gute Wille allein reicht nicht, sondern es müssen aktiv Wege gesucht werden, um Leute zu erreichen.

K. Tonekaboni: Es ist eine Frage der Zielgruppenansprache: „Fühle ich mich da eingeladen? Habe ich das Gefühl, dass ich Teil davon sein kann?“ Irgendwann wurde vorgeschrieben, dass in Stellenanzeigen stehen muss: „Schreiner (m/w/d)“. Das ist auch keine Ideallösung und wirkt manchmal wie ein Lippenbekenntnis, aber allein so etwas explizit verpflichtend zu machen – oder dieser Satz, der auch manchmal belächelt wird: „Menschen mit Behinderung werden bei gleicher Eignung bevorzugt berücksichtigt“: Das sind erste Schritte, die die richtigen Signale geben.

S. Mysorekar: Die Hemmschwellen sind oft sehr diffus und emotional. So etwas ist über Jahre gewachsen, dass man instinktiv denkt, man ist willkommen oder auch nicht. Das lässt sich schwer abbauen, denn es hängt ja nicht mit einzelnen Institutionen zusammen, sondern von einer gesamtgesellschaftlichen Atmosphäre. Das Positive ist – das sehe ich seit der Gründung der NdM bis heute, mit Unterstützung durch Organisationen wie die Grimme-Akademie –, dass sich die Atmosphäre, der Diskurs tatsächlich ändert. Es gibt auch viel Widerstand, aber trotzdem hat sich sehr viel positiv geändert. Das ist für mich auch eine Bestätigung, dass man auf vielen Ebenen gesellschaftliche Veränderungen in einer durchaus überschaubaren Zeit erreichen kann.

Wir glauben, dass es auch in der Medienbranche Nachwuchsprobleme geben wird bzw. der Fachkräftemangel auch hier angekommen ist. Daher werden sich alle mehr bemühen müssen, Menschen anzusprechen.

K. Tonekaboni: Die Zielgruppe, also die Rezipient*innen, die Abonnent*innen, die potenziellen Leser*innen, die Zuschauer*innen – alle sind ja auch diverser. Wenn ich viele Menschen erreichen will, dann kann ich nicht mit diesem ‚alten Journalismus‘ und Klischees und Stereotypen arbeiten, denn dann sagen die Leute: „Das ist nicht meine Zeitung, das ist nicht mein Medium, das ist nicht mein Sender.“

S. Mysorekar: Und wenn wir uns die demografische Entwicklung anschauen, reden wir hier nicht von einer kleinen Minderheit: Wenn irgendein Medium da überhaupt noch überleben will, muss es andere Ansprachen finden. Man kann Menschen auf Dauer nicht überall ausschließen. Im öffentlichen Dienst, in der Justiz und natürlich auch in den Medien muss und wird sich etwas ändern.

Lasst uns noch einen Themenschwenk machen: Die NdM, aber auch wir beschäftigen uns seit vielen Jahren mit Online Hate Speech. Im Grimme-Institut seit 2014 mit dem europäischen Projekt BRICkS, ihr macht seit 2016 das „No Hate Speech Movement“. Positiv gesehen hat sich einiges getan und vielen Beteiligten ist klar, dass dies ein Thema der gesamten Gesellschaft ist. Ist das richtig, oder sind wir doch noch ganz am Anfang?

S. Mysorekar: Auf der einen Seite wächst das Bewusstsein, dass man etwas gegen Hate Speech tun muss. Gleichzeitig sehe ich gerade im politischen Diskurs eine Verschlechterung – weg vom rationalen und offenen Austausch. Dieser sogenannte Kulturkampf, der auch von etablierten Parteien geführt wird: Wie dort der politische Gegner angegriffen wird, das ist knapp unter Hate Speech. Das zeigt mir, dass denen nicht bewusst ist, welchen Kräften sie so Vorschub leisten. Es sind nicht irgendwelche ‚Online-Hater‘, die den Diskurs vergiften mit Lügen oder Angriffen, sondern das geschieht auch bei etablierten Parteien. Für sehr kurzfristige Ergebnisse bei irgendwelchen Umfragen wird ein vernünftiger und vernunftgeleiteter Diskurs geopfert. Das ist wirklich eine sehr schlechte Tendenz, die allen ‚Hatern‘ Vorschub leistet – denen wird quasi schon die Tür geöffnet und sie brauchen nur noch den Fuß reinzustellen.

K. Tonekaboni: Es braucht Ernsthaftigkeit und Ressourcen, um gegen Hate Speech vorzugehen und es nicht nur auf einzelne, individuell Betroffene zu reduzieren. Es müssen die strukturellen, systemischen Mechanismen erkannt werden: wie Hate Speech koordiniert wird, wie zum Beispiel gewisse Accounts mit einem guten juristischen Wissen anstacheln, in der Sicherheit, dass sie dafür nicht haftbar gemacht werden können, während dann die Mobs durchs Internet ziehen.

S. Mysorekar: Und es gibt einen fließenden Übergang zwischen polemischer Rede (auch von bürgerlichen Parteien oder beispielsweise der Bild-Zeitung) und der Online-Hetze, die sich Stichworte herausgreift und die Themen hochpusht. Es endet dann mit Drohungen gegen Journalist*innen oder migrantische Aktivist*innen, aber nicht nur digital, sondern auch im realen Leben: Leute werden bedroht und müssen umziehen, weil ihre Adresse im Internet „gedoxt“ wurde. Es sind nicht immer offene Drohungen, sondern oft sogenannte „Dog whistles“, also bestimmte Stichwörter, die die „richtigen Leute“ „richtig interpretieren“. Das ist eine bewusste Taktik, um kritische Minderheiten mundtot zu machen. Nicht jeder kann damit umgehen, Hassmails zu bekommen und bedroht zu werden. Man kann Leute so einschüchtern, dass sie aufhören oder sich selbst zensieren. Das ist zum Beispiel auch so eine Sache, die ich in Redaktionen inzwischen sehe: Selbstzensur. Die Hassmails stammen oft von wenigen Accounts, die aber ganz gezielt und koordiniert die Postfächer von Redaktionen fluten und auf diese Weise Druck ausüben. Das ist nicht einfach der besorgte oder der normale Bürger – das sind Leute, die rechtrechtsradikale Propaganda betreiben, und genau so muss man das benennen.

Habt Ihr Tipps oder Empfehlungen für Kolleg*innen, die mit Hass konfrontiert werden?

K. Tonekaboni: Auf der Website des No Hate Speech Movements findet sich der Verweis auf unseren „Helpdesk gegen Hate Speech“ mit Infos zu „Vorher“, also bevor die Angriffe stattfinden: Wie kann ich mich vorbereiten? „Jetzt“, wenn es aktuell einen Angriff gibt: Da gibt es bspw. „Zehn goldene Regeln im Umgang mit Hass im Netz“. Und dann „Nachher“: Wo bekomme ich Hilfe, wenn ich zum Beispiel eine Anzeige erstatten will? Das Wichtige ist trotzdem: Natürlich kann ich als autonome Person etwas machen, um mich selbst zu schützen. Aber es ist keine individuelle Aufgabe, sondern es ist eine Aufgabe, die Redaktionen in ihrer Fürsorgepflicht für feste und freie Mitarbeiter*innen übernehmen müssen.

S. Mysorekar: Und ergänzend: Nicht einknicken – und damit rede ich hier von der Redaktionsleitung oder der Intendanz –, selbst wenn hunderte Zuschriften von Rechten kommen. Das sind oft Leute, die nichts anderes zu tun haben, als zu hetzen und Druck auszuüben – und es gelingt ihnen sehr gut. Da ist Zivilcourage gefragt, das betrifft die schweigende Mehrheit, auch die in den Redaktionen. Das darf nicht nur den NdM überlassen werden, da müssen alle dranbleiben. Nicht einknicken vor den Rechten, sonst haben wir verloren.

K. Tonekaboni: Das heißt jetzt nicht, dass Verlage oder Medienhäuser eine bestimmte Politik fahren sollen. Man kann natürlich über Themen diskutieren: Man kann darüber diskutieren, wie gegendert werden sollte oder wie man Migrationspolitik inhaltlich aufbereitet. Und da wünsche ich mir eine ernsthafte und durchdachte Auseinandersetzung. Aber die Systematik bestimmter Angriffe muss man sehen und ansprechen. Das ist wirklich – auch wenn es etwas pathetisch klingt – eine Gefahr für unsere Demokratie. Man muss den Mumm haben, sich hinzustellen und dagegen zu halten, und dazu brauchen wir die schweigende Mehrheit, die jetzt Position bezieht und sagt: „Ich stehe für die freiheitliche demokratische Grundordnung!“ Und die muss mit Leben gefüllt werden, damit sie für alle Menschen gilt – denn halbe Menschenrechte, die gibt es nicht.

 

Das Interview ist erstmalig erschienen im grimme-Jubiläumsheft zum 50. Geburtstag des Grimme-Instituts.